In einer Felsenhöhle östlich des Dorfes hauste ein furchtbarer Drache. Menschen und Tiere, die das Unglück hatten, in die Nähe seines Sitzes zu gelangen, waren unrettbar verloren. So ward er zum Schrecken der ganzen Umgebung. Jeglicher Verkehr zwischen dem Ober- und dem Unterwallis war gelähmt. Schon hatten mehrmals tapfere Bergler das Untier angegriffen, doch alle fielen ihm zum Opfer.
Mittlerweile wurde ein Schlosser, der aus Eifersucht seine Gattin ermordet hatte, zum Tod verurteilt. Vor der Vollstreckung des Urteils bat er den Richter um Erlaubnis, mit dem Tier den Kampf aufzunehmen. Die Bitte wurde gewährt und im Fall seines Sieges versprach man ihm Freispruch.
Da schmiedete er sich eine Rüstung aus härtestem Stahl und ein Schwert, das er im Gletscherwasser und im Blut eines frisch geschlachteten Stieres stählte. Einen Tag und eine Nacht verbrachte er im Gebet.
Am anderen Morgen ging der Schmied zum Tisch des Herrn, um darauf den Kampf zu wagen. Doch kaum hatte der Lindwurm den Kämpfer bemerkt, kroch er aus seinem Felsverlies hervor, entfaltete seine Flügel mit solchem Lärm, dass selbst die Menschen, die ausserhalb seines Machtbereiches waren, mit Schrecken erfüllt wurden.
Wie zwei erbitterte Feinde zogen sie einander entgegen; beide in schwere Panzer gehüllt, der eine in Stahl, der andere in Schuppen. Der Kämper hielt in einiger Entfernung vom Drachen an. küsste den Griff seines Schwertes, den ein Kreuz zierte, und erwartete den Angriff.
Das Ungeheuer zögerte anfänglich, richtete sich dann empor und suchte mit den vorderen Klauen sein Opfer zu umklammern. Doch mit zwei wuchtigen Schlägen gelang es dem Tapfern, der Natter eine Pranke und einen Flügel abzuschlagen. Aus zwei Wunden blutend, stürzte das Tier zu Boden. Freudengeschrei erschallte ringsum. Jetzt näherte sich der Haudegen dem Tier:
Doch zum zweiten Mal erhob sich die Bestie. Nochmals tobte ein wilder Kampf: Bald blitzte ein Schwert auf; bald schlug ein Flügel hoch. Der Ausgang schien ungewiss. Da erhob sich plötzlich ein merkwürdiger Aufschrei und darin trat Ruhe ein.
Mit Vorsicht näherten sich die Zuschauer: Kämpfer und Drache lagen ausgestreckt auf der blutigen Walstatt. Im Umkreis von 20 Schritten lag alles Gras niedergeschlagen. Schuppen bedeckten den Boden, der wie Goldstaub glänzte.
Nachdem der Drachentöter aus seiner Ohnmacht aufgewacht war, wurde er in einem Siegeszug ins Dorf zurückgeführt. Das Dorf wurde zum Gedenken an diese Tat Naters benannt. Den Drachen aber warf man in den Rotten.
Quelle: "Naters, das grosse Dorf im Wallis" von Erwin Jossen
Mittwoch, 21. März 2007