Seit einiger Zeit hatten die Alphirten von Breno im Malcantone etwas ganz Aussergewöhnliches bemerkt. Wenn sie nämlich am Morgen früh die Kühe melken wollten, so fanden sie sie mit schlaffem Euter, mit zu Berge stehenden Haaren und mit Entsetzen erfüllten Augen. Da fingen sie an, die Ställe zu bewachen, entdeckten aber lange nichts, obwohl auch jetzt die Tiere jeweilen schon gemolken waren.
Eines Tages endlich konnte einer der Hirten einem entsetzlichen Schauspiel beiwohnen. Um Mitternacht hörte er plötzlich ein Rascheln und sah ein scheussliches Tier heranschleichen. Es war eine Art Schlange, etwa sechs Fuss lang, mit Augen wie Feuer, mit offenem Rachen, gespaltener Zunge und einem mächtigen roten Kamm auf dem Kopf.
Der arme Hirt fühlte, wie sich ihm vor Schrecken die Haare emporrichteten, und er zitterte vor Angst wie Espenlaub. Am anderen Morgen wussten jetzt die Hirten, wer da nächtlicherweile kam, ihre Kühe zu melken, und sie berieten, wie sie den Unhold aus der Welt schaffen könnten.
Aber jenes Ungeheuer schien der bare Teufel in eigener Person zu sein und fuhr ganz unbekümmert weiter, die Kühe zu melken, ohne sich dabei im geringsten stören zu lassen.
Da hielten die Alphirten Rat, und es wurde beschlossen, ein Gelübde zur Madonna zu tun, dass sie ihnen helfen möchte, sie von dem Ungeheuer zu befreien. Sie wollten dafür jedes Jahr zu Fuss eine Wallfahrt unternehmen nach der Kirche auf dem Monte Sacro oberhalb Varese. Und das taten sie.
Und so zog eine lange Prozession von Leuten aus Breno und dem Malcantone talabwärts den weiten schlechten Weg bis an den Luganersee und dann über jene Berge bei Ponte Tresa und Porto Ceresio nach Varese. Müde und halb tot vor Erschöpfung, mit geschwollenen und blutenden Füssen, aber voll Glauben und Hoffnung, langten sie auf dem Wallfahrtsberg an.
Die Madonna zeigte sich ihnen gnädig, denn als sie zurückkehrten, gelang es ihnen, das Untier mit langen Lanzen, die sie ihm in den Rachen stiessen, zu töten. Seine Höhle war an einem Abgrund nahe bei einem Bergbach gewensen. Sie liessen den Drachen einbalsamieren und brachten ihn nach dem heiligen Berg von Varese, wo er in der Kirche in einer Nische ausgestellt wurde.
Im Lauf der Jahre starben die Alphirten. Ihre Söhne wurden auch alt und gingen aus dieser Welt. Aber auch die Söhne dieser Männer vergassen den Drachen und das getane Gelübde nie und zogen jedes Jahr zum Sacro Monte nach Varese.
Einmal aber ereignete sich etwas sehr seltsames auf einer solchen Pilgerfahrt. Die Prozession war schon ganz in der Nähe ihres Ziel gelangt und bewegte sich langsam auf der Landstrasse von Bisuschio nach Varese. Lena, das schönste Mädchen von Breno, war am Ende des Pilgerzuges, denn die Füsse taten ihr weh. Da hörte sie plötzlich ein Rossgetrampel. Schnell wie der Blitz jagt ein schwarzes Pferd vorüber, das auf einem Sattel einen noch schwärzeren Reiter trägt. Dieser berührt Lenas Arm, welche hierauf dem Unbekannten mit Widerwillen nachfolgt, verdeckt von einer Staubwolke, so dass die Pilger, ganz ausser sich vor Staunen, schon im nächsten Augenblick nichts mehr sehen konnten. Umsonst riefen sie sie zurück. Vergeblich war alles Suchen. Niemand hat jemals weder Reiter noch Mädchen wiedergesehen. "Wer war jener seltsame Unbekannte?" fragten sich die Leute. Vielleicht der Drache oder der Teufel, als Ritter verkleidet?
Nach jenem traurigen Vorfall getrauten sie sich nicht mehr nach Varese zu wallfahrten und begnügten sich damit, wie die einen sagten, zur Kapelle von San Mattia nach Vernate zu gehen, oder wie die anderen behaupteten, zur Madonna zu von Caslano bei der Brücke der Maglisina, wohin sie nur einen Tag zu pilgern hatten statt deren zwei bis nach Varese.
Quelle: "Tessiner Sagen und Volksmärchen", W. Keller, Edition OLMS Zürich, 1940
Montag, 19. März 2007