Thors Kampf mit der Midgardschlange

Thors Kampf mit der Midgårdschlange

Als Thor noch jung an Jahren war, trieb ihn die Abenteuerlust hinaus in die Welt. Viel sah er auf seiner Wanderung durch die Gaue der Menschen, und nicht weniger erlebte er im Riesenreich, wo er, meist unerkannt, viel Gastfreundschaft erfuhr. So kam er auch in das Haus des Riesen Hymir, von dem er gerne aufgenommen wurde und auf dessen Fellager er die Nacht verbringen konnte, denn er war müde von der weiten Reise.

Frisch gestärkt stand Thor am anderen Morgen auf und trat vor das Haus. Da sah er, dass sich sein Gastgeber anschickte, zum Fischfang auszufahren. Mit ein paar Schritten stand Thor an seiner Seite und bat, mit aufs Meer hinausgenommen zu werden und ihm bei der Arbeit helfen zu dürfen.

Aber da lachte ihn der Riese an. Was er mit solch einem jungen Kerl auf der tobenden See anfangen solle, fragte er ihn und schüttelte den Kopf. "Nein, nein", fuhr er fort, "das geht nicht, du Schwächling würdest mir ja draussen erfrieren. Und dann bleibe ich wohl länger, als dir lieb ist und als du ertragen kannst."

Das war eine Herausforderung, die Thor nicht unwidersprochen hinnehmen durfte. Ganz deutlich hatte er den Hohn in den Worten Hymirs gespürt. Am liebsten hätte er seinem Hammer das Wort gegeben, damit der Protz erfahren hätte, mit wem er es zu tun habe. Aber er hatte andere Dinge vor, die ihm wichtiger schienen, deshalb unterliess er es und folgte dem Riesen auf dem Weg zum Strande.

"Damit du nicht ganz unnütz bist", begann Hymir nach einer Weile, "so sorge wenigstens für einen ordentlichen Köder an meine Angel!"

Thor liess sich das nicht zweimal sagen, er eilte zur Viehweide des Riesen, fing sich den grössten Stier und riss ihm mit einem einzigen Ruck den Kopf ab. Lachend trug er ihn dann ins Boot und legte ihn dem Riesen vor die Füsse. Dann ergriff er die Ruder und holte gewaltig aus, so dass das Boot wie ein Pfeil davonschoss.

Nach einer Weile gebot ihm der Riese, er möge innehalten; denn sie seien an den Fischgründen angelangt. Weiter hinaus wage er sich nicht, da das Meer dort draussen über die Massen heimtückisch sei. Doch Thor kümmerte sich nicht um die Mahnung des Aengstlichen, denn er war ja auf Abenteuer aus, und er wusste, dass er weiter draussen die Midgårdschlange fände, mit der es gerne anbinden wollte.

Als er an die Stelle kam, wo er das Untier vermutete, machte er die Angelschnur zuredet, steckte den Stierkopf an den Haken und warf den Köder aus. Der versank so schnell in die Tiefe, dass die Leine mächtig am Bootsbord hinabbrauste. Die Midgårdschlange stürzte sich sogleich auf die Angel und schnappte gierig danach. Der Haken blieb ihr im Gaumen hängen. Wild vor Schmerz bäumte sie sich auf und riss so ungestüm an der Leine, dass das Boot fast kenterte. Thor stemmte sich mächtig gegen den gewaltigen Zug, denn er wollte auf keinen Fall die Angel und das tobende Ungetüm freigeben. Aber der Druck war so heftig, dass seine Füsse die Bodenplanken des Bootes durchstiessen und er auf den Boden des Meeres zu stehen kam. Nun hatte er einen festen Stand, und er konnte die Schlange ins Boot ziehen. Der Riese, der sich in einer Ecke niedergekauert hatte, folgte dem Beginnen Thors mit Furcht und Grauen. Unheimlich, wie die Augen des rothaarigen Gesellen vor Gier aufglühten! Und nicht anzusehen, wie das gefangene Tier Gift und Dampf ausspie! Noch nie hatte er Schrecklicheres gesehen!

In mächtigen Brechern klatschte das Wasser ins Boot und versetzte den Riesen in Todesangst. Thor liess sich freilich nicht beirren. Seine Jagdleidenschaft machte ihn blind für die Gefahr. Als er nach dem Hammer langte, um den Schädel der Schlange zu zerschmettern, stürzte Hymir mit dem Messer hinzu und durchschnitt die Angelschnur. Gurgelnd versank das Untier wieder in den Tiefen des Meeres.

Wutentbrannt schleuderte Thor seinen Hammer nach, aber es blieb lange ungewiss, ob er die Schlange getroffen hatte. Dann gab er dem Riesen zornerfüllt eine mächtige Ohrfeige, dass er über Bord stürzte und lautklatschend ins Wasser fiel. Er selber aber watete mit wütendem Gesicht ans Land und schaute sich nicht mehr um.

Quelle: "Keysers grosses Buch der Sagen", Inge Dreecken, Eugen Heberle, Ulla Leippe und Arno Reissenweber, Keysersche Verlagsbuchhandlung, 1970

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Donnerstag, 12. Juni 2003